Hannes Leffe / Matthes Loehr / Peter Bieringer:

  FRÜHLING AUF GALAPAGOS
oder
Die Wiedergeburt der Operette aus dem Geiste der Kokosnuß

Vorspiel
(kann entfallen)

Bon soir, tristesse. Unter den Klängen elegischer Klaviermusik öden sich Gäste in einem stocksteifen Restaurant an. Estrella, eine attraktive Frau um die 40, begeht mit ihrem zweiten Mann den 20. Hochzeitstag. Die Stimmung ist gedrückt, denn Estrella kann den Schildkrötenforscher Ludwig Törtel nicht vergessen. Obwohl er damals die blutjunge Mutter mit unbekanntem Ziel sitzengelassen hat, schätzt ihn Estrella weit höher als ihre derzeitige „gute Partie“, was den Gatten Nr.2 sichtlich kränkt. Um die Athmosphäre zu verbessern, serviert der Sommelier eine Flasche Wein auf Kosten des Hauses. Ein beim Einschenken zutage tretender Fremdkörper berührt den Kellner hochnotpeinlich, versetzt aber Estrella in Entzücken, denn er entpuppt sich als Flaschenpost von ihrem verschollenen Ex-Liebsten. In dem Papier schildert dieser seine Notlage: er sei auf eine entlegene Insel verschlagen und brauche Hilfe. Voller Tatendrang bricht Estrella zu einer Rettungsaktion auf!

 1.AKT
(Auf einem Kreuzfahrtschiff, 25 Jahre zuvor)

Eine bunte Gesellschaft kreuzt im nächtlichen Pazifischen Ozean vor den Galapagos-Inseln. Die parazuelanische Konsulsfamilie Mendoza y Meyer sieht der baldigen Ankunft in der Hauptstadt „Santo Domingo de la Cruz y la corrupción que es la corazón de Latino-America“ mit gemischten Gefühlen entgegen. Karl-Carlos kann kaum erwarten, bald wieder in der Heimat zu sein, zumal seine Chancen im laufenden Präsidentschaftswahlkampf gut sind. Gattin Schatzi, eine Ungarin, möchte lieber endgültig fort aus dem sündigen Parazuela, denn sie ist im Kloster aufgewachsen und hat mit der Ehe alles verloren: ihre Unschuld, ihre Puszta-Heimat, sogar ihren ungarischen Akzent. Gefahr sieht sie vor allem für Estrella, ihre 15jährige Tochter, die sich an Bord schon sehr konkret für die Männerwelt interessiert. Groß ist die Auswahl an ledigen attraktiven Herren allerdings nicht. Aber der deutsche Schildkrötenforscher Ludwig Törtel hat es ihr angetan. Zwar trifft er Frauen gegenüber nicht immer den richtigen Ton, sein Engagement für bedrohte Tiere ist jedoch beispielhaft. Sogar Bordratte Karlheinz kann sich seines Schutzes erfreuen. Aus Nordfriesland stammt die Ethno-Linguistin Ingeborg Trappenkamp, die an ihrer Dissertation über Sprachverwandtschaft arbeitet. Sie möchte über einen gemeinsamen archaischen Konjunktiv den Nachweis erbringen, daß Amrum und Galapagos vor der Kontinentaldrift einmal verbunden gewesen sein müssen. Einer ehelichen Verbindung will das etwas linkische Fräulein („Halten Sie mal meine Handtasche!“) mit der empfindlichen Haut noch aus dem Wege gehen, wenngleich der sich aufdringlich nähernde Steward Max bei ihr Chancen hätte. Ihre Haut- und Herzensprobleme kann sie einer reiferen Promenadendeck-Bekanntschaft anvertrauen: Mimi Charmeuse, ehemaliger Revuestar aus Paris, eine an Bord anerkannte Showgröße und in Nebentätigkeit Kosmetikberaterin für die Firma Avignon mit ihrem internationalen Duftstoff („Pour Madame, pour Monsieur - Padam, Padam, c’est merveilleux!“). Schon die 17. Saison tingelt sie auf dem Schiff, ohne einen zahlungskräftigen Mann zum Heiraten gefunden zu haben. Dieses Jahr wird sie sich wenigstens dem Kapitän an den Hals werfen. Und das will etwas heißen: Julius Goedeke, der sprachlich wie navigatorisch nur eine Katastrophe zu nennen ist, fühlt sich von Mimis Avancen durchaus geschmeichelt. Außerdem ist er als Interpret seines fragwürdigen Shanty-Liedes quasi ein Kollege. Der gesellschaftliche Höhepunkt naht mit dem Zeremoniell der Äquatortaufe. Die Konsulsleute sind bei ihrer Lieblingsbeschäftigung - sie streiten sich. Schatzi bemerkt, daß Mimi ihren Mann besser zu kennen scheint, als es ihr zusteht. Hatten sie was miteinander, als Karl-Carlos Agrarattaché in Paris war? Ihre ungarische Eifersucht lodert und verlangt nach dem Puszta-Heimatlied. Estrella kriegt zur Cocktailstunde ihren ersten Schwips, wird ohnmächtig und darf auf künstliche Beatmung vom Steward hoffen „so mit Musik und Licht aus und alles“. Während zu Boden geht, was geküßt werden will, kollidiert das Schiff an Backbord mit einem - Eiswürfel! SOS. Damit keine Panik ausbricht, serviert Steward Max gratis den Cocktail der Saison: Popocatepetltiticacamacchupichuacapulcochachachacopacabana!

2.AKT
(Am Strand, einen Tag später)

Die Passagiere sind sich nicht ganz sicher, ob der Schiffbruch echt war oder, wie Mimi behauptet, von der Reederei als Überraschung inszeniert wurde. Jedenfalls läßt man es sich beim Landgang gut ergehen. Der Professor nimmt in Begleitung Estrellas die Fauna der Insel in Augenschein, mit Schwerpunkt auf die Riesenzwergschildkröten. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß deren nur alle sechundneunzigeinhalb Jahre stattfindender Balztanz kurz bevorsteht. Max versucht, Ingeborg mit Hilfe eines heimlich auf ihrem Ohrläppchen applizierten Spezialduftes aus Mimis reichhaltigem Kulturbeutel schwach zu machen. Das verführeische Tröpfchen landet jedoch zufällig bei Estrella, die sich liebestrunken am Steward festkrallt. Ingeborg hat genug gesehen. Beim Konsulsehepaar überstürzen sich die Ereignisse. Eine Flaschenpost wird entdeckt, adressiert an Mendoza y Meyer. Darin beklagt sich ein schwangeres Pariser Freudenmädchen namens Mimi über den entflohenen Geliebten. Also doch. Karl-Carlos beteuert hartnäckig seine Unschuld. Nun tauchen auch Zweifel an Schatzis Engelsreinheit auf und stellen gar die legitime Vaterschaft für Estrella in Frage. Bevor die Austernmesser gezückt werden und Blut fließt, sublimiert Schatzi ihren Schmerz durch ihr lange zurückgehaltenes Puszta-Heimatlied. Jaj, Mámá, jetzt muß es heraus!

 3.AKT
(Wieder an Bord, am späten Nachmittag)

Das Schiff ist nach einer Notreperatur wieder flott gemacht, die Aufregung unter den Passagieren hat sich etwas gelegt. Der Steward erfährt freudevoll, daß Ingeborg ihrer intimen Freundin Mimi in seinem Sinne das Herz geöffnet hat. Die Sängerin hält den Moment für gekommen, von ihrem familiären Unglück zu berichten. Vor vielen Jahren wurde sie von einem südamerikanischen Verführer schwanger, mußte sich aber von ihrer kleinen Tochter trennen. Währenddessen schweben Max und Ingeborg im siebenten Himmel. Er outet sich als Sohn des Milliardärs Aristoteles Patschnassis, sie wird durch eine plötzliche Erbschaft (Telegramm aus Friesland!) entsprechend standesgemäß. Schatzi versucht, nacheinander ihre Tochter und sich selbst noch mit Max zu verkuppeln, da sie ihre Ehe nach all den Nachforschungen für null und nichtig halten darf. Als ein Schmuckstück mit verräterischen Initialen Karl-Carlos’ Untreue zu belegen scheint, erreichen die familiären Verwicklungen inzestuöse Dimensionen. Erstmal Schildkrötenballett. Aber am Ende löst sich der Knoten überraschend einfach: Mimi Charmeuse entpuppt sich als Schatzis Mutter aus der Verbindung mit Karl-Carlos’ Adoptivvater. Happy End. Der Konsulsfamilie steht nach der Übermittlung des Wahlsieges eine rosige Zukunft bevor, dem Staate Parazuela die gesicherte Rückkehr zur Korruption. Max schenkt seiner Braut mal eben ein paar Galapagos-Inseln, Mimi verbindet sich mit dem Kapitän sowohl ehelich als auch geschäftlich durch geplante Butterfahrten mit Showteil und zollfreier Kosmetikberatung. Estrella und Professor Törtel sehen gemeinsam der wundersamen Forschung und Vermehrung entgegen. Der Tierwelt und der eigenen.

Zeichnung: Liselotte Bremer

Auszüge aus dem Libretto

1. Akt

Schatzi  (nach hinten) Karl-Carlos, nimm die Finger von der Sängerin! Karl-C.  Aber Schatzi, Mademoiselle Charmeuse ist AVIGNON-Beraterin und hat mir nur ein ganz neues After Shave vorgeführt. Mimi  "PISSOIR DE PARIS®, pour mesdames, pour messieurs, Padam Padam, c'est merveilleux." Karl-C.  Und das ist meine Gattin. Mimi  (enttäuscht) Deine...comment? Merde! (faßt sich) Ihre mari at eine starke Bartwuchs, barbe bleu, très masculin. Isch abe die rischtige tonic pour rasage. Und eine Body Lotion ... Schatzi  Besten Dank. Wir haben schon genug Ärger mit Inflation, Revolution und Korruption. Und das nächste Mal gehen Sie meinem Mann nicht gleich an die Wäsche. Ich bin im Kloster aufgewachsen. Mimi  (spitz) Oh, dann isch empfehle aus dem Ause AVIGNON  "Gebet einer Jüngfrau" mit eine kleine Tropfen eschte Weihwasser von Cathédrale Nôtre Dame. Schatzi  Meinetwegen, kommen Sie morgen um elf Uhr in meine Kabine, Nummer 4711. Und bringen Sie ein Peeling mit für Estrella. Ich glaube, sie kommt in die Jahre. Mimi  Oui, Madame. (für sich) Cette bigotte Schnepfe er at geeiratet und jetzt tut, als wenn er misch at noch nie gesehen. Isch muß mich machen frêche. (sprüht sich ein) Schatzi  Hier stinkts wie im Puff. Karl-Carlos, mir wird schlecht. (zieht ihren Mann fort)

2. Akt

Professor  (mit Feldstecher) Haben Sie eben den Fregattvogel gesehen? Und "Fregatida darwinensis", seine Gattin. Ingeborg  Professor Törtel, für Sie als Naturwissenschaftler bietet ja wohl Galapagos so etwas wie den Einblick ins Paradies. Professor  Sie sagen es, verehrte Kollegin von der Philologie. Ich habe schon eine große faltenreiche Echse am Strand entdeckt. Kapitän  Das dürfte die Baronin gewesen sein. Man erkennt sie sonst gut an ihrem Strohhut. War sie schon überbacken? Professor  Reichlich. Kapitän  Dann sollte ich sie jetzt besser umdrehen. (ab) Professor  Ich kann Ihnen noch eine andere Entdeckung mitteilen. Wir werden vermutlich heute noch Zeugen einer zoologischen wie künstlerischen Sensation. Ich habe mehrere Kurzschwänzige Riesen-Zwergschildkröten bei den Vorbereitungen zum Balztanz angetroffen. Mimi  Was ist daran Sensation? Isch war auch bei die Ballet. Karl-C.  Ach, wie interessant. Erzählen Sie doch. Mimi  Oui, oui, isch noch abe getanzt neunzehnhundert-dreiund...(verlegen) oh... Professor  Dieser Balztanz wird schon bei Herodot erwähnt und findet genau alle 96 einhalb Jahre statt. Manchmal noch seltener.

3. Akt

Professor  Ja, also, ähm Omimi, wenn das so ist, würden Sie mir für rein wissenschaftliche Zwecke verraten, wie alt Sie sind? Es interessiert mich vom erdgeschichtlichen Standpunkt aus. Mimi   Bon, die Baronesse de Rothwild könnte sein meine Mütter. (beleidigt ab) Professor   Würde mich nicht wundern, wenn es wirklich die Mutter ist. Und die wäre dann nach meinen Berechnungen (bekritzelt ein Blatt Papier aus der Tasche) meine Schwiegerurstiefschwippgroß...Egal. Was ist denn das? Ein Telegramm für... Karl-C.  ...zufällig für Karl-Carlos Mendoza y Meyer, Generalkonsul de la Republica militar de Parazuela, que és... Professor Karl-Carlos ja, aber "An den Präsidenten der letztgenannten Bananen- und Kakerlakenrepublik que és..." Estrella  Papi, du hast gewonnen! Schatzi  Präsident auf Lebenszeit! Karl-C.  Das sind ja mindestens vier Wochen. Höchstens sechs... Schatzi  Endlich mehr Haushaltsgeld !